Es ist die Jahreszeit, in der die Tage kürzer werden und sich die Stare versammeln, als der Ich-Erzähler wieder in seine Heimat, an die Küste Flanderns kommt. Zehn Jahre war er nicht mehr dort, doch nun gibt es etwas zu regeln. Seine Mutter ist gestorben. Da ist aber noch ein anderer Grund: seine erste große Liebe, die er nun nach vielen Jahren wiedersehen wird. „Ich sehe das Muttermahl an seiner Ohrmuschel und denke: zu Hause.“ Neben dem Wiedersehen, dem Wiedernahwerden, dem Erinnern an die gemeinsame Zeit und das Entdecken der Homosexualität in einer Welt, in der es keinen Platz dafür gab, ist dieses Buch aber noch mehr. Es ist auch eine – im Perspektivwechsel geschriebene – Rückschau auf eine sehr traurige und gewaltvolle Kindheit mit vielen blauen Flecken und Tränen, mit Narben und 39 Stiche über den Körper verteilt, mit Beschimpfungen in der Schule als „Sozialfall“, eine Kindheit mit einer Mutter, die ihrem Sohn sagt, „du bist nichts“, „du warst ein Fehlkauf“. „Du weißt nicht, was du falsch gemacht hast, aber das spielt keine Rolle.“ „Du legst dich ins Bett, auf der Bettdecke tanzen die Schöne und das Biest, aber du stellst dich schlafend und hoffst, dass bald alles vorbei ist.“
An Rändern ist ein sehr intensives, trauriges und berührendes Buch, geschrieben in einer zarten, poetischen und bildhaften Sprache und handelt von Liebe, Verlust und Schmerz. Es ist ein dünnes Buch, in dem kein Wort zu viel ist, jedes Wort, jeder Satz sitzt. Ich mag die Sprache, die enorme Wucht, die mir Seite um Seite entgegenkommt, den Sound, den Perspektivwechsel, den kurzen Moment des Freiheitsgefühls des jungen Mannes als er aufs Meer blickt, der Moment, der mir beim Lesen während all dieser Traurigkeit und Intensität des Buches einen kurzen Hoffnungsschimmer schenkte. Jahreshighlight!
Dieses Buch ist aber nicht nur inhaltlich groß, es ist auch eines der 25 Schönsten Deutschen Bücher 2024. Passend zum Titel An Rändern, zum Thema – am Rande der Gesellschaft – , dem Handlungsort – am Rand eines Landes – , ist auch der Text an den Rand der Seiten gedruckt: Ein hoher Fußsteg rückt die Kolumnen sehr weit nach oben, ein breiter linker Rand platziert den Text an den rechten Blattrand des mattweißen Papierrechtecks. Es ist ein Buch, das sich gestalterisch von anderen Büchern abhebt, dessen Gestaltung wunderbar stimmig ist, das Text, Buchinneres und Äußeres miteinander verbindet.
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Angelo Tijssens: AN RÄNDERN, Rowohlt Verlag, Erscheinungstermin 13. Februar 2024, 128 Seiten
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Aus dem Niederländischen von Stefanie Ochel
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Buch gekauft
Kooperation mit der die Stiftung Buchkunst, Schöne Bücherbotschafterin