„Die Zeit, in die ich geboren wurde, ist das, was man heute eine historische Zäsur nennt. Alljährlich im Herbst laufen über die Bildschirme die glücklichen Bilder des Mauerfalls. Die Menschen, die sich in die Arme fallen und kaum fassen können, dass das, was da gerade passiert, wirklich geschieht. Auf ihren Gesichtern Erleichterung und die Möglichkeit von Glück.“ S. 18
Anne Rabe erzählt von Stine, die zur Zeit der Wiedervereinigung Deutschlands vier ist und in einer Stadt an der Ostsee, vermutlich Wismar, aufwächst, von Stines Kindheit und Jugend in Ostdeutschland nach der Wende, eine Zeit, die für Stine von Gewalt geprägt ist. Insbesondere ihre Mutter übt an ihren beiden Kindern körperliche und psychische Gewalt aus. Der Vater, stets still und duldet das Handeln der Mutter.
Nach dem Abitur ist Stine nach Berlin gegangen und hat den Kontakt zur Familie, bis auf den zu ihrem Bruder Tim, abgebrochen. Jahre später, inzwischen verheiratet und zwei Kinder, geht sie ihrer Familiengeschichte auf den Grund, begibt sich auf die Suche nach der Ursache für so viel Gewalt, befasst sich mit der Gewalt innerhalb des DDR-Systems, der Zeit in der ihre Eltern lebten. Sie recherchiert die Lebensgeschichte ihres Großvaters Paul, der Opa mütterlicherseits, der ein Kind der Nazi-Zeit, Soldat an der Ostfront, später SED-Propagandist war. „Ich würde gern das Knäuel der Familiengeschichte entzerren, geduldig, Knoten für Knoten lösen, es neu aufwickeln und irgendwann am Ende des Fadens angelangen.“ S. 228
Ein Buch über eine Kindheit in Ostdeutschland nach der Wende, über eine traurige Kindheit, die von Gewalt geprägt ist. Eine Familiengeschichte, die bis in die Nazi-Zeit reicht. Eine Suche nach der Ursache für so viel Gewalt und dem Warum wir so sind, wie wir sind.
Das Buch ist auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.
„Ich musste aufpassen, jedes falsche Wort, jeder Versprecher, alles würde gegen mich verwendet werden. Mutter konnte aus dem winzigen Nichts einer Unüberlegtheit dünne Fäden spinnen, die sie einem als Schlinge um den Hals legte und blitzschnell zuzog.“ S. 162
Leseempfehlung, für diejenigen, die das Thema anspricht. Meins war es nicht so. Ich habe es gelesen, weil ich einen Bezug zu Wismar habe und weil das Buch auf der Shortlist steht. Die geschilderte Gewalterfahrung ist mir sehr nahe gegangen. Ich, ebenfalls ein Wendekind, bin froh, dass ich eine liebevolle Familie habe und nicht diese Erfahrungen machen musste.
Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück, Klett-Cotta, Erscheinungstermin 18.3.2023, 384 Seiten
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