Daniela Krien: MEIN DRITTES LEBEN

Wie lässt es sich nach dem Tod des eigenen Kindes weiterleben?

In ihrem neues Roman Mein drittes Leben widmet sich Daniela Krien genau dieser Frage. Eindringlich und berührend schreibt sie über die Themen Trauer und Trauerbewältigung  und landete damit direkt auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2024. Doch nicht nur das, Mein drittes Leben ist auch eins der fünf Bücher, die für das „Lieblingsbuch der Unabhängigen“ 2024 nominiert wurden.

Tiefschläge im Leben treffen fast jede:n von uns. Der Verlust des eigenen Kindes ist allerdings eines der traurigsten Ereignisse überhaupt.  Als die 17-jährige Tochter von Linda und Richard verunglückt, ist für beide nichts mehr wie zuvor. Während es Richard jedoch trotz Trauer nach einiger Zeit gelingt, nach vorn zu sehen und weiterzuleben, bleibt Lindas Blick in die Vergangenheit gerichtet. Mit anzusehen, dass es ihrem Ehemann langsam besser geht, erträgt sie nicht, weshalb sie die gemeinsame Wohnung in Leipzig verlässt und  sich ein Haus in einem Dorf im nördlichen Sachsen mietet. Dort lebt die Ich-Erzählerin mittleren Alters inzwischen seit zwei Jahren zurückgezogen und hat die Außenwelt ausgesperrt. Alle zwei Wochen besucht Richard seine Ehefrau in geduldiger Hoffnung, dass sie wieder zurückkommt.  Doch Linda kann nicht. Sie bewohnt das Niemandsland zwischen Leben und Tod, hat den Sinn des Lebens verloren. Sie braucht diesen neuen Ort der Abgeschiedenheit, der sie beruhigt und an dem vor allem nichts auf ihre verunglückte Tochter Sonja hinweist, an dem sie ihren Tag mit tausend Kleinigkeiten und einfacher körperlicher Arbeit in Haus und Hof füllt, bevor sie am Abend ihre Schlaftabletten nimmt, um die Nächte zu überstehen.

Eindringlich und sehr berührend schildert die Autorin Lindas tiefe Trauer, ihr drittes Leben nach dem Verlust, in dem sie immer wieder in den Abgrund blickt. Sie zeigt aber auch, dass mit der Zeit ein zaghaftes, unscheinbares und doch lebenserhaltendes Glimmen in Linda steckt, dass es hauchdünne Fäden gibt, die sie halten: z.B. durch die Hündin Kaja, dessen Zuneigung sie gewinnt,  durch die steten Handgriffe im Garten, die sie vor der Leere ihrer Tage retten, und, obwohl Linda zurückgezogen und unscheinbar lebt, durch Gespräche mit Leuten aus dem Dorf, einerseits kurze, nie tief gehende und am Schmerzpunkt rührende, anderseits aber auch der gedankenreiche Austausch mit Natascha, die keine Angst vor Lindas Trauer hat und ihr mit brutaler Ehrlichkeit entgegentritt. Für die neuen Menschen in ihrem Umfeld entwickelt Linda zunehmend Mitgefühl und lässt das Entstehen vertrauensvoller Beziehungen zu. Es sind drei Schritte vor und zwei zurück, aber irgendwann kann Linda wieder lesen, sich einen Tulpenstrauß auf den Küchentisch stellen, sich Inseln der Schönheit gestalten, die sie trösten und die Sinnlosigkeit einer leisen Vorfreude weichen lassen, auch wenn diese noch kein Ziel hat.

Mein drittes Leben ist ein Roman über Schicksalsschläge und den Umgang mit ihnen, über Trauer und Schmerz, aber auch über Neuanfänge nach Wendepunkte im Leben, über Hoffnung und Annäherung, über Lebensmenschen, Freundschaften und  Mutterschaft. Die Autorin schreibt in einer schönen, klaren Sprache und lässt durch ihr psychologisches Gespür die Lesenden tief in das Innerste der Protagonistin blicken. Sie erzeugt eine enorme Nähe und ermöglicht ein Wiedererkennen für viele, die jemals einen großen Verlust erlitten haben, und zeigt anderen auf, wie es sein kann, derartiges zu erleben. Und: sie macht Mut, nach einer tiefen Trauer, gleich welcher Art, weiterzuleben, zurück ins Leben und zu sich selbst zu finden. Verdient auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 (ich hätte mir gewünscht es auch auf der Shortlist zu sehen) und vielleicht wird es ja sogar das „Lieblingsbuch der Unabhängigen“ 2024. Wir werden sehen, am 17. Oktober 2024 ist die Verkündung. Wie auch immer die Entscheidung ausfällt, für mich ist es ein Herzensbuch.

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Zitate:

Natürlich geschahen Dinge danach, doch sie waren bedeutungslos. Alles, was kam, kreiste um diesen Augenblick.“ S. 41

Das alte Konzept meines Lebens habe ich endlich aufgegeben. Schritt für Schritt gehe ich Tag für Tag ein kleines Stück weiter. Mehr ist es nicht mehr, mehr muss es auch nicht sein.“ S. 169

Seit ihrer Geburt war mein Lebensglück ihrem unterworfen. Von Beginn an und bis über ihr Ende hinaus bin ich das, was sie ist – glücklich, unglücklich, ängstlich, traurig, euphorisch, lebendig oder tot. Denn wenn ein Kind geht, nimmt es dich mit. Es lässt nicht mehr von dir zurück als eine welke Hülle.“ S. 117

Jeden Abend überlasse ich mich der Flut von Erinnerungen. Mit jedem Bild kommt ein Schmerz. Er fährt mir blitzartig in den Körper, bohrt sich ins Herz, ins Hirn und in die Eingeweide, nimmt mir den Atem, knickt mir die Beine weg.“ S. 132

Früher war Glück das Besondere, heute ist es die Abwesenheit von Unglück: aufwachen, ohne Schmerzen sein, sich bewegen können, essen, atmen, laufen, lesen, schlafen.“ S. 231

Daniela Krien: Mein drittes Leben, Diogenes, erschienen am 21. August 2024, 304 Seiten

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