„Das hätte alles schön sein sollen. Mit Simon, mit euch Kindern. Bei anderen ist es auch schön. Ich versuche die ganze Zeit… ich strenge mich so sehr an…“ S. 110
„Obwohl alles vorbei ist“ ist ein sehr individueller und für mich herausragender Familien- und Gesellschaftsroman, erzählt aus den Perspektiven der vier Familienmitglieder Simon (Vater), Charlotte (Mutter) sowie den Kindern Karl und Greta.
Der Roman beginnt nach dem Prolog mit einer zarten Liebesgeschichte, die sich jedoch auf den folgenden Seiten dramatisch entwickelt. Simon und Charlotte beschließen, das Haus, in dem sie mit ihren Kindern leben, aufzuteilen, durch eine Linie zu trennen und auch die Kinder aufzuteilen. Dass diese Entscheidung nicht ohne Konsequenzen bleibt, ist nicht verwunderlich. Das Heranwachsen der Kinder führt zur Katastrophe. „Wie kann man weitermachen, obwohl alles vorbei ist?“
Jede der Figuren erzählt ihre Sichtweise in einer anderen Zeitebene. Insgesamt werden so 20 Jahre geschildert: Charlotte 2000/2001, Greta zehn Jahre weiter 2010 (Greta ist 8 Jahre, Karl 5 Jahre), Karl weitere 9 Jahre später (2019) (Karl ist 15 Jahre) und Simon 2019/2020. Mit psychologischem Gespür, viel Feingefühl und absolut gekonnt denkt sich die Autorin in ihre Figuren hinein: in die Sichtweise eines Mannes und in die der Kinder/Teenager, was mich fasziniert hat. Sie schreibt spannend, klar, poetisch und hatte mich mit ihrer Schreibweise schnell gepackt. Das Leben und die Empfindungen der Familienmitglieder wurden eingebaut in gesellschaftlich relevante Themen, was den Roman sehr vielseitig macht (11. September 2001, Wirtschaftskrise, Agentursterben, Fußballweltmeisterschaft 2010, Hitzerekord, Klimawandel, Pegida).
Die beschriebene Trennung von Simon und Charlotte ging mir sehr nahe. Die Vorstellung mit meinem Ex-Partner im selben Haus zu leben, das Haus mit einer Linie zu teilen, die Kinder aufzuteilen und so über viele Jahre zu leben (hier waren es neun), hat mir Bauchschmerzen bereitet und war für mich als Leserin eine harte Kost. Deshalb war ich der Autorin sehr dankbar für das letzte Kapitel. Das Buch hatte es für mich thematisch in sich. Doch es wird mir gerade deshalb lange im Gedächtnis bleiben. Ich bin sehr gespannt auf den nächsten Roman der Autorin, die Preisträgerin des Sächsischen Literaturpreises ist.
Leseempfehlung!
Ausgewählte Zitate:
„Wieder ein Stück Traum, das verschwunden ist.“ S. 61
„Das, worauf sie gehofft hat, fällt in ihr zusammen, zu nichts.“ S. 65
„Alles geht weiter, obwohl alles vorbei ist. Sie ist nicht mehr dieselbe, aber wer sie stattdessen sein kann, das weiß sie noch nicht.“ S. 84
„An den guten Tagen passen sie endlich zu dem Haus, das Charlotte für sie eingerichtet hat.“ S. 106
„Wieso hackt ihr alle auf mir herum? Warum bin immer ich schuld? Ich habe mir das auch mal anders vorgestellt. Ich hatte sogar einen Beruf damals…““ S. 107
„Da gibt es zwei Erwachsene, und da gibt es zwei Kinder. Das geht gut auf. Wenn sich die Erwachsenen nicht mehr vertragen, müssen sie sich voneinander fernhalten. Da gibt es anderseits wenig Geld. Da gibt es aber ein Haus, das groß genug ist, groß wie zwei Wohnungen, ein Haus, in dem jeder sein eigenes Zimmer hat. Sollte das nicht reichen, um sich voneinander fernzuhalten?“ S. 118
„Der rote Strich kriecht über die Mitte der Treppenstufen. In der Küche verläuft er quer (…)Im Wohnzimmer brauchte es ein paar Winkel und Beulen, damit die Teilung aufging.“ S. 123
„Ich will, dass wir damit aufhören.“ S. 144
„Ich zwinge sie, wieder meine Mutter zu sein.“ S. 144
„… und dann denkt sie an ihre eigene Geschichte, in der die Mutter nun einfach nicht mehr vorkommen wird.“ S. 145
„Vielleicht hat Simon recht, vielleicht genügt das: eine halbe Familie. Vielleicht ist es gut.“ S. 147
„Ich will nur, dass es dir gut geht. (…) Du bist doch mein einziges Kind.“ S. 163
„Es muss doch erlaubt sein, dass er einmal mit seinem Vater spricht“ S. 175
„Er hat immer angenommen, dass Greta weniger einsam wäre als er, der riesige Freundeskreis hat ihn daran glauben lassen, aber jetzt ist er sich nicht mehr so sicher. Vielleicht sind sie einander doch nicht so unähnlich.“ S. 215
„Er will gar nichts Großes. Was er wirklich dringend will, das ist eine Schwester, mit der er jedes halbe Jahr die Küchenuhr von der Wand nimmt. Er will eine Mutter, mit der er das Grillfleisch verkohlen lassen kann, und einen Vater, der überhaupt einmal sein Vater ist. Er merkt, wie er die Fäuste schließt, um das Gefühl zu packen. Er will diese drei, weil sie die einzige Familie sind, die er haben kann.“ S. 220
„Wir weinen hier alle, aber wir weinen allein.“ S. 239
„Wir hatten uns ja überhaupt nichts mehr erzählt, hatten uns vor neun Jahren schockierend schnell an das Nichts-mehr-Erzählen gewöhnt; ehe wir es uns versahen, war aus einer abstrakten Idee ein Alltag geworden, den keiner hinterfragte.“ S. 262
„Dass sie ihr Leben lang gewartet habe, darauf gewartet habe, dass irgendetwas gut würde. Erst das Verhältnis zu ihren Eltern, dann die Beziehung zu mir. Dass sie im Grunde ihr Leben lang darauf gewartet habe, dass genau dieses Leben endlich anfange, das wirkliche, richtige Leben. Dass sie jetzt begriffen habe – jetzt, wo alles vorbei sei -, dass nichts von allein gut werde, sondern man etwa dafür tun müsse. Das also vielleicht noch nicht alles vorbei sei. Dass es vielleicht nicht zu spät sei für…“ S. 265
„Es ist einfach noch nicht vorbei. Wir haben angefangen, und dann haben wir alles liegen gelassen.“(…) Wenn wir wollen, geht es immer weiter.“ S. 284
„Ich hoffe, dass es noch nicht zu spät ist für uns drei, die wir übrig geblieben sind.“ S. 288
„Wir sitzen an unserem Wieder-Küchentisch in der Wieder-Mitte dieser Wieder-gemeinsamen-Küche, wir sprechen darüber, was war, was ist und was sein könnte.“ S. 290
„Wir konnten nicht mehr Familie spielen, Mutter, Vater, Kind, es war zu spät, wir hatten zu lange gewartet, hatten es verpasst, auch unser zweites Kind war bereits erwachsen geworden.“ S. 293
unbezahlte Werbung, Rezensionsexemplar
Franziska Gerstenberg, Obwohl alles vorbei ist, Schöffling & Co., erschienen am 26. Januar 2023, 296 Seiten