Aus dem Norwegischen von Andreas Donat
Hanne Ørstavik ist für mich eine ganz besondere Schriftstellerin. An ihr Buch „Liebe“, das ich Anfang des Jahres gelesen habe, denke ich noch immer, so sehr hat es mich berührt. „Die Zeit, die es dauert“ hatte ich mir für die Vorweihnachtszeit aufgehoben. Handlungszeitpunkt dieses Buches ist nämlich die Weihnachtszeit und ich mag es, wenn Handlungszeitpunkt und aktuelle Zeit zueinanderpassen.
In Signe (30 J.) tun sich seit mehreren Jahren Abgründe auf, ihre Kräfte versiegen, sie fühlt sich leer, dunkel, kalt (S. 18). Vor zwei Monaten ist sie gemeinsam mit Mann Einar und Tochter Ellen (4 J.) aufs Land gezogen, in der Hoffnung, dass der Umzug ein Neubeginn werden könnte, es ihr auf dem Land besser gehen würde. Doch kaum rufen ihre Eltern an und kündigen ihren Besuch für den nächsten Tag an, gerät sie wieder in Panik. Signe weiß, dass ihre Mutter energisch darauf bestehen wird, dass das Weihnachtsfest bei ihr verbracht wird, und alle wie immer „rund um den Tisch sitzen und lächeln und sagen, dass alles gut sei“ (S. 46), so wie sie immer „so taten, als ob alles gut sei und immer schon gut gewesen sei“ (S. 39). Signe jedoch möchte an den Weihnachtstagen allein mit Mann und Kind sein.
Als die Eltern und auch ihr Bruder zu Besuch sind, kommen Signe die Erlebnisse ihrer Kindheit in der Familie wieder hoch. „Hört das niemals auf, dachte ich, es schmerzte zwischen den Schulterblättern, die Fäuste drehten sich es fühlte sich an, als hätte jemand dort Gewichte angenäht, die allzu fest saßen und spannten.“ (S. 42) Wir erleben Signe nun als 13-jährige, eine Woche vor Weihnachten bis zum Heiligabend: Sie freut sich sehr auf Weihnachten. Doch die Ehe der Eltern ist geprägt von psychischer und physischer Gewalt, Signe und ihr Bruder leben in Angst. „Wir hatten solche Angst, wir lagen nachts da und hatten solche Angst, sagte ich, – und wir waren ganz allein.“ (S. 51). Signe empfindet eine große Verantwortung und möchte es allen recht machen, damit endlich alles gut wird. Auch noch als 30-jährige wünscht sie sich nichts anderes, als in den Augen ihres Vaters, „tüchtig und liebenswert und gut zu sein.“ (S. 40)
Ein Buch, darüber, wie die Vergangenheit uns prägt und Erlebtes in uns präsent ist. Mit großem psychologischen Gespür beschreibt die Autorin die Gefühlswelt der 13- und 30-jährigen Signe, sie geht in die Tiefe und hat mich auch mit diesem Buch sehr beeindruckt und berührt.
LESEEMPFEHLUNG
HANNE ØRSTAVIK: DIE ZEIT, DIE ES DAUERT, Karl Rauch, Erscheinungstermin 5.8.2019, 272 Seiten
unbezahlte Werbung, Rezensionsexemplar