Mit ihrem inzwischen fünften Roman Fest liefert die Schweizer Schriftstellerin Mireille Zindel ein wichtiges, packendes und intensives Buch über psychische Erkrankungen. Noëlle, die 44-jährige Protagonistin des Romans, erkrankt an Liebeswahn, verliert den Bezug zur Realität und kann nicht mehr zwischen wahr und falsch unterscheiden. Ursache für ihre Erkrankung ist David, den sie seit fünf Jahren vermisst, der ihre Liebe jedoch nicht (mehr) erwidert, der vielmehr mit ihr spielt.
Marie Falou sprach mit der Autorin über ihren Roman, übers Schreiben und zukünftige Projekte.
Marie Falou: Liebe Mireille, was war die Initialidee für deinen Roman? Was fasziniert dich am Thema psychische Erkrankungen, insbesondere Liebeswahn?
Mireille Zindel: Ich fragte mich wohl insgeheim, wie weit Liebeswahn gehen kann. Wie tief er jemanden runterziehen kann. Und wo der Wendepunkt gekommen ist, an dem sich die Person daraus befreit.
Marie Falou: Eine der Besonderheiten deines Romans ist die überzeugende Umsetzung der Thematik, die mich als Lesende tatsächlich hin und wieder fragen ließ, was ist Realität und was findet ausschließlich im Kopf der Protagonistin statt. Insbesondere der wunderbare Wechsel zwischen ersten und zweiten Teil ist hervorragend. Wie ist dir dieses Verwirrspiel gelungen?
Mireille Zindel: Das Buch ist aus der Perspektive von Noëlle geschrieben, der Protagonistin. Noëlle erlebt und gleichzeitig beobachtet sie sich. Ihre Wahrnehmung ist krankheitsbedingt eingeschränkt, was sich auf die Form auswirkt. Im ersten Teil, wo sie von Medikamenten sediert ist, haben wir bruchstückartige Erinnerungsschübe, Textnachrichten von David, die in Noëlles Sehnsucht nach ihm geisterhaft durch ihren Kopf rattern, Dialogfetzen zwischen dem Psychiater und ihr, zwischen der Hexe und ihr, zwischen ihrer besten Freundin Penelope und ihr, sowie Nacherzähltes, Geträumtes und Halluziniertes. Wir haben nüchterne Beschreibungen ihres Umfelds, die an japanische Haikus erinnern. Wir haben Gedankensplitter und Assoziationen. Die Handlung des Romans besteht aus Noëlles Gedanken und Assoziationen.
Je mehr sie gesundet (im zweiten Teil) desto länger werden die klassischen narrativen Passagen, desto mehr traut sie wieder ihrer eigenen Wahrnehmung.
Marie Falou: Eine wichtige Botschaft deines Romans ist, dass es jede:n treffen kann. Es wird deutlich, dass Noëlle vor ihrer Erkrankung eine gesunde, strahlende Frau war, bis sie, weil sie den Absprung aus der Beziehung mit David nicht geschafft hat, an Erotomanie erkrankt ist. Aber auch durch die Schilderung der Mitpatienten in der psychiatrischen Klinik, z.B. Capucine, die bei einem Fahrradunfall auf den Kopf gefallen ist und sich seitdem an nichts mehr erinnern kann, erfahren die Lesenden, dass eine psychische Erkrankung jedem widerfahren kann. War diese Botschaft dein Hauptanliegen?
Mireille Zindel: Der Begriff Erotomanie scheint mir falsch, da David Noëlles Liebe durchaus erwidert. Sie haben sich einige Jahre lang getroffen und hatten ein Verhältnis miteinander, nur zieht er sich plötzlich zurück, ohne ihr dafür einen Grund anzugeben und gibt ihr nur noch kryptisch Antwort. Er schickt ihr noch Zeichen, sie liest nicht überall was rein, wo nichts ist, so verrückt ist sie nicht. Es ist das Sich-nicht-aussprechen, das sie in den Wahn führt, nicht, dass er ihre Liebe nicht erwidert.
Beim Schreiben habe ich keine Botschaft im Kopf, ich folge einer Figur, die in Problemen steckt, und schaue ihr zu, wie sie überlebt.
Ja, es kann jeden treffen. Jeder kennt das Gefühl des Verliebtseins, jeder kennt Liebesschmerz, doch während wir die Liebe romantisch, fast religiös überhöhen, verniedlichen wir den Liebeskummer, darauf wollte ich einen Finger legen. Es ist wie bei Trauer. Freud sagt in seinem 1917 erschienen Essay Trauer und Melancholie, «es ist sehr bemerkenswert, dass es niemandem einfällt, die Trauer als einen krankhaften Zustand zu betrachten und dem Arzt zur Behandlung zu übergeben. «Leid», sagt Freud, «bringe schwere Abweichungen vom normalen Lebensverhalten mit sich. (…) Eigentlich erscheint uns dieses Verhalten nur darum nicht pathologisch, weil wir es so gut zu erklären wissen.»
Dasselbe gilt für Liebesschmerz. Wenn Neurowissenschaftler in den Kopf unglücklich verliebter Menschen schauen, entdecken sie Hirnaktivitäten, die denen von Zwangsgestörten ähneln. Sie sind obsessiv. Ob schlimme Trennung oder Todesfall: Für das trauernde Gehirn besteht da kaum ein Unterschied.
Marie Falou: Wie hast du für Fest recherchiert, gab es Gespräche mit Fachärzt:innen, hast du für die Recherche eine Psychiatrische Klinik aufgesucht und dir das dortige Alltagsleben angesehen?
Mireille Zindel: Ich habe stundenlang mit einer befreundeten Neurologin gesprochen, die viele Jahre in Psychiatrischen Kliniken gearbeitet hat. Ich habe mit einer Freundin gesprochen, die einer Klinik war und mit zwei Patienten, an die sie mich verwiesen hat. Da ich selber nie einer Klinik war und nie Psychopharmaka eingenommen habe, war es für mich wichtig, möglichst viele Details aus dem Klinikalltag zu erfahren, um diesen glaubwürdig wiedergeben zu können. Alles, was die Medikamente und deren Auswirkungen betrifft, habe ich ebenfalls durch die Neurologin erfahren.
Marie Falou: Eine interessante Person in deinem Roman ist die Hexe Muira, in deren Geschäft Noëlle spirituelle Dinge kauft, in der Hoffnung, wieder mit David zusammenzukommen. Wie kam es zur Figur der Hexe Muira?
Mireille Zindel: Mich interessiert die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion, und die wird nicht zuletzt in Themen wie Metaphysisches oder Magie tangiert. Aus demselben Grund werden im Buch Themen wie Kunst, Religion, Drogen und virtueller Raum beleuchtet. Auch sie stellen Fluchten und Scheinwelten dar.
Marie Falou: In deinem Roman hat die Natur, die du wundervoll poetisch beschreibst, eine große Gewichtung, was sehr gut als ruhiger Gegenpol zur doch schweren Thematik passt. Was bedeutet dir die Natur?
Mireille Zindel: Noëlle erkennt an der Natur, dass sie gesundet. Sie erkennt es daran, dass sie sich freut, immer noch ein Teil des großen Ganzen zu sein, ganz unabhängig davon, was mit David ist. Das ist eine Kehrtwende im Buch. Es ist ein Zeichen für die Lesenden: Noëlle schafft es. Sie wird sich von dieser Krankheit erholen.
Ich selber gehe gerne spazieren. Es verschafft mir Ruhe und einen Überblick.
Marie Falou: Ich denke, dein Roman kann Betroffenen Mut machen, den inneren Frieden mit getroffenen Entscheidungen zu schließen und sich von Selbstvorwürfen, eine Beziehung mit einem narzisstischen Partner eingegangen zu sein, zu verabschieden, zum Beispiel durch den Satz: „Wenn ein Kranker sich zu einem Gesunden ins Bett legt, wird der Gesunde krank, nicht umgekehrt.“ Der Roman zeigt außerdem, dass es trotz möglicher Rückschläge einen Weg geben kann, wieder gesund zu werden. War es dir wichtig, diesen Weg aufzuzeigen und Mut zu machen?
Mireille Zindel: Ja, es ist mir wichtig, einen Ausweg aus der Situation zu zeigen. Es wird von mir gesagt, ich sei gut im Schildern abgründiger Ereignisse und Lebenswege. Seit meinem ersten Roman Irrgast würde ich die dunklen Winkel menschlicher Seelen erkunden und diese zum Thema meiner Werke machen. Dabei geht es mir aber immer darum, zu zeigen, wie jemand, der zu Beginn des Buches mit dem Rücken zur Wand steht, sich aus der Situation zu befreien vermag. Es geht ihm am Schluss immer besser als am Anfang, egal wie schwierig die Situation ist. Das sind nicht zwingend Happy Ends, doch die Figuren überleben und gehen gewandelt weiter. Ich finde meine Bücher gar nicht so drastisch, wie immer gesagt wird, es geht ja für die Figuren immer gut aus, zumindest geht es ihnen am Schluss des Buches besser als zu Beginn. Meine Bücher sind nicht hier, um zu schocken, meine Bücher sind hier, um ehrlich zu sein, um zu zeigen, wie es den Figuren geht, wie sie ihren Platz in der Welt wiederfinden müssen, nachdem sie sich verirrt haben oder nachdem ihnen etwas zugestoßen ist.
Marie Falou: Hattest du schon früh den Wunsch zu schreiben? Wann hast du mit dem Schreiben begonnen? Was bedeutet Schreiben für dich?
Mireille Zindel: Ich glaube, ich war dreizehn, als ich wusste, dass ich Schriftstellerin werden möchte. Ich saß mit einem Notizbuch im Café oder in einer Kirche oder auf einer Bank in der Natur und schrieb. Mit fünfzehn schrieb ich mein erstes Buch, es hieß Eli, wie der Vorname der Protagonistin. Das Buch ist nie erschienen, doch der Name hat es als meine erste Romanfigur in Irrgast geschafft. Immerhin das (lacht).
Marie Falou: Am 15. September 2024 erscheint Bald wärmer, dein mittlerweile sechster Roman. Wovon handelt er?
Mireille Zindel: Bei Bald wärmer handelt es sich um ein autobiografisches Buch, nicht um einen Roman, auch wenn er vom Verlag so angekündigt wurde. Alles, was in Bald wärmer steht, ist wirklich passiert. Ich habe lediglich ein paar Vornamen verfremdet. Das Buch handelt von meiner ersten Tochter Zoé, die im Alter von zwölf Tagen an einer unheilbaren Krankheit gestorben ist, und wie ich als Mutter das Weiterleben lernte.
Vielen Dank für das Gespräch!
Zürich, 8. August, 2024
Mireille Zindel, Germanistin und Romanistin, Jahrgang 1973, ist eine Schweizer Schriftstellerin und lebt in Zürich. Für ihren ersten Roman „Irrgast“ erhielt sie 2008 den Preis der Literaturperle (art-tv.ch) und den Literaturpreis der Marianne und Curt Dienemann Stiftung. Nach „Laura Theiler“, „Kreuzfahrt“ und „Die Zone“ erschien 2024 ihr neuester Roman „Fest“.
Mireille Zindel schreibt auch Gedichte, Short Stories, Artikel und Reportagen.
Meine Rezension zum Roman Fest: Mireille Zindel: FEST – Marie Falou