Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
Oktober 1970 in einem kleinen norditalienischen Dorf. Anstatt zur Schule zu gehen, geht die Lehrerin Silvia Canepa in den Wald. Eine ihrer Schülerinnen, die 11-jährige Giovanna, um die sie sich sehr gekümmerte, hat sich das Leben genommen.
Silvia ist geplagt von Schuldgefühlen. Sie will mit der Natur zerschmelzen, zerfallen wie die Hütte, die ihr Unterschlupf bietet und sich vom Wald und Laub umhüllen lassen. Während ihre Kräfte schwinden, füllt sich ihr Geist mit Erinnerungen an ihre Schülerin, an ihre eigene Kindheit (Silvia war Waise und ist bei ihren Großeltern aufgewachsen), an ihre einsame und mit Demütigungen verbundene Zeit des Internatlebens.
Die Abwesenheit Silvias versetzt alle im Ort in Aufregung, eine Suchaktion startet. Der Schüler Martino, der neu im Dorf ist, beschließt, den Wald allein zu durchforsten. Tatsächlich findet er die Lehrerin, behält dies aber für sich und versorgt sie mit Essen. Durch Martino ist Silvia wieder mit der Welt verbunden.
Der Roman blickt auf das Leben der Hauptprotagonistin Silvia, die keine typische Hausfrau ist, nicht kocht, putzt und ohne Mann lebt, auf das Schicksal des jungen Mädchens, die körperlich deutlich reifer als ihre Mitschülerinnen war, die von ihrem Vater geschlagen wurde, am Rande aber auch auf weitere Menschen des Dorfes, insbesondere auf die Frauen, ihre Sehnsüchte und Enttäuschungen im Leben: Da ist z.B. Lea, die Mutter Martinos, die nur mit Kind und ohne ihren Mann umgezogen war; eine Nachbarin, die sich scheiden lassen möchte, sobald das Gesetz zur Legalisierung der Ehescheidung beschlossen ist und Luisa, die sich an der Seite ihres Mannes fremd fühlt und Panikanfälle hat.
Das klingt alles ganz vielversprechend oder? Auch Cover und Titel haben es mir angetan. Romane mit vielen Naturbeschreibungen mag ich nämlich sehr. Aber so ganz erreichen konnte mich dieses Buch nicht. Die große Begeisterung blieb bei mir aus. Silvia blieb mir unnahbar, da hätte ich mir mehr Tiefe in den Rückblicken in ihre Vergangenheit gewünscht und vielleicht lieber eine Randfigur weniger. Dennoch habe ich diesen leisen Roman, der von einer wahren Begebenheit inspiriert ist, gern gelesen.
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Maddalena Vaglio Tanet, 1985 im italienischen Biella geboren, ist Literaturscout und Autorin. Sie veröffentlichte Gedichte und Kinderbücher. In den Wald ist ihr gefeierter Debütroman und war für den Premio Strega nominiert. Vaglio Tanet lebte mehrere Jahre in Berlin, bevor ist mit ihrer Familie nach Maastricht zog.
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Annette Kopetzki, geboren in Hamburg, hat u.a. Werke von Edmondo De Amicis, Pier Paolo Pasolini, Andrea Camilleri, Erri De Luca und Roberto Saviano ins Deutsche übertragen. 2019 wurde sie vom Deutschen Literaturfonds mit dem Paul-Celan-Preis für herausragende Literaturübersetzungen ausgezeichnet.
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Maddalena Vaglio Tanet: In den Wald, Suhrkamp, Erscheinungstermin 9. September 2024, 304 Seiten
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Werbung I Rezensionsexemplar