Was für ein großartiges und außergewöhnliches Buch! Mit viel Feingefühl schreibt Mireille Zindel über eine Protagonistin mit einer psychischen Erkrankung, über deren Verlust des Realitätsbezuges und Bewusstseinszustand, der nicht mehr zwischen wahr und falsch unterscheiden kann. Der Roman überzeugt durch seinen Aufbau, insbesondere dem geschickten Bruch zwischen erstem Kapitel (der Scheinwelt) und zweitem Kapitel, der Umsetzung der Thematik, das Beschreiben der Psyche der Protagonistin, den Naturbeschreibungen, einer poetischen Sprache, aber auch durch die zahlreichen losen Szenen, Bruchstücke, die die Psyche der Protagonistin wunderbar wiederspiegeln und das Wirrwarr in ihrem Kopf verdeutlichen, so deutlich, dass ich beim Lesen selbst teilweise nicht sofort unterscheiden konnte, was real ist und was nicht, was mir sehr gefallen und das Lesen wunderbar spannend gemacht hat. Ein sehr wichtiges, berührendes, packendes und intensives Buch über psychische Erkrankungen, emotionale Abhängigkeit und Identitätsverlust, das aufzeigt, wie es zur Erkrankung gekommen ist und deutlich macht, dass es jede:n treffen kann. Die Autorin ist für mich eine großartige Entdeckung. Ich möchte unbedingt mehr von ihr lesen. Große Leseempfehlung für dieses Herzensbuch, ein Buch, das mir nicht nur inhaltlich, sondern auch äußerlich (Format, Cover mit Goldprägung) sehr gefällt. Für mich ein Jahreshighlight!
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„Oh, wenn du nur sehen könntest, was ich sehe.“ S. 18
Noëlle, 44 Jahre, verheiratet mit Bertram, ist in einer psychiatrischen Einrichtung im französischsprachigen Jura, einem Kanton der Schweiz. Sie vermisst David und das seit fünf Jahren. „Ihr Handy liegt neben dem Kopfkissen, Nacht für Nacht, seit fünf Jahren. Bevor sie einschläft, murmelt sie Davids Namen. Wie ein Zauberspruch. Oder ein Gedicht.“ S. 46 Doch der verheiratete David vermisst sie nicht, er spielt mit ihr. Für ihn geht es bei Frauen eher um Quantität und nicht um die Einzelne. Bevor Noëlle David traf, war sie gesund, doch nun lebt sie in einem Bewusstseinszustand, der nicht mehr zwischen wahr und falsch unterscheidet. Noëlle befindet sich in einer gestörten Wahrnehmung und verschwindet immer wieder in eine andere Welt. In ihren zahlreichen Spaziergängen in der Natur versucht sie ihren Gedanken davonzulaufen, die immer wilder werden, insbesondere seit sie eigenmächtig ihre Medikamente absetzt, macht sich die Verwirrung breit. Sie hört Stimmen, sieht Szenen, die sich wieder in Luft auflösen. Was ist, wenn sie völlig durchdreht und ihr Herz auf einmal stillsteht? Sie hat Angst, den Verstand zu verlieren. „Stell dir vor, alles, was du hast, gerät ins Wanken“ S. 151
Noëlles Veränderung von einer gesunden, strahlenden, fröhlichen zu einer zittrigen, ängstlichen, kranken Frau ist mir sehr nahe gegangen. „Sie hat den Absprung nicht geschafft. Sie hat es nicht geschafft zu sagen: er antwortet nicht, er investiert nichts in uns, ich lasse ihn fallen. Deshalb ist sie verrückt geworden. Wegen dieser Schwäche. S. 296 Auch das Beschreiben der Mitpatienten, die Schicksalsschläge der verwirrten Seelen, fand ich sehr berührend. Die Autorin hat sehr schön verdeutlicht, dass es jede:n treffen kann, was auch insbesondere am Schicksal von Capucine deutlich wird, die bei einem Fahrradunfall auf den Kopf gefallen ist und sich seitdem an nichts mehr erinnert.
Mireille Zindel ist eine Schweizer Schriftstellerin. Fest ist bereits ihr fünfter Roman. Die weiteren vier Romane „Irrgast“ (2008), „Laura Theiler“ (2010), „Kreuzfahrt“ (2016) und „Die Zone“ (2021) wurden mehrfach ausgezeichnet. Ich habe mich sehr gefreut, die sehr sympathische Schriftstellerin auf der Leipziger Buchmesse persönlich kennengelernt zu haben.
Mireille Zindel: Fest, lectorbooks, Erscheinungstermin 22. Februar 2024, 416 Seiten
unbezahlte Werbung, Rezensionsexemplar
Ein Gedanke zu „Mireille Zindel: FEST“