Zwei gleichaltrige Frauen, die unter vollkommen verschiedenen Umständen aufwuchsen, begleitet ein Gefühl des Fremdseins, der Haltlosigkeit, der Suche nach der eigenen Identität: Die namenlose Ich-Erzählerin (eine Regisseurin) und Tala.
Die Ich-Erzählerin plante einen Film mit Tala in der Hauptrolle. Probeaufnahmen fanden bereits statt, aber zu mehr ist es nicht gekommen. Tala, die Tochter einer Iranerin und eines griechischen Gastarbeiters, die dem Familienerbe nicht zu entkommen scheint, begab sich auf eine längere Reise durch Asien und Osteuropa. Nach deren Rückkehr soll sie sich in Berlin das Leben genommen haben.
Der Selbstmord lässt sich für die Erzählerin nicht mit der Tala in Deckung bringen, die sie kannte. Während sie durch Berlin streift, zum Teil dieselben Wege geht, die sie mit Tala gegangen ist, hat sie das Gefühl, Tala intensiv wahrzunehmen. Sie erinnert sich an Gespräche mit ihr, sowie an die Gründe, die Talas Eltern einst nach Deutschland führten. Neben Talas familiären Hintergrund, drängt sich der Ich-Erzählerin auch ihre eigene Vergangenheit auf, von der sie sich versucht, abzutrennen. Sie hat sich bereits in frühen Jahren als unvollständiger Mensch gefühlt, der mit sich und seinem gesamten Dasein im Unreinen war. Sie begleitete ein Gefühl des Fremdseins, das sich in einer stetigen Distanz zu ihren Mitmenschen (insbesondere zu ihrem Vater) und Orten ausdrückte. Und auch als junge Frau ist sie noch immer „durchtränkt von einer Art Melancholie, von ständig wechselnden Empfindungen, die sich nur beruhigten, wenn ich mit Tala war.“ (S. 67) Die Welt der Filme bot ihr eine Zuflucht, doch auch in der Filmwelt sieht sie viele Dinge kritisch. Der Film mit Tala in der Hauptrolle sollte ihr erster Film werden. Doch daraus wurde nun nichts.
Der Debütroman ist in zwei Erzählstränge aufgebaut: Die durch Berlin streifende Ich-Erzählerin und Talas Briefe, die sie während der Reise an die Ich-Erzählerin schreibt. Briefe, aus denen wir erfahren, dass sie auf der Suche nach ihrer eigenen Identität ist und, dass es für sie keinen Ort zu geben scheint, an dem sie sich zu Hause fühlt. „Vielleicht kann ich die Hüllen im Laufe der Reise abstreifen, und was übrig bleibt, ist dann mein wahres Selbst. Aber was bleibt denn übrig, wenn man auch dieses Selbst aufgibt; kann ich an diesen Ort gelangen?“ S. 141 Während ihrer Reise hat sie immer weniger Interesse an diesem ICH.
Es ist ein Buch voller Bewegung: das Flanieren der Ich-Erzählerin (das Gehen und Fahren durch Berlin sowie Talas Reiseroute), wodurch die Haltlosigkeit und die Suche der Beiden sehr gut rüberkommt. Auf beiden Erzählebenen gibt es interessante historische Fakten, was mir sehr gefallen hat. Auch das Reflektieren der Beiden, das genaue Beobachten, insbesondere Talas Reisebeobachtungen fand ich sehr gut. Ganz besonders begeistert hat mich die Sprache, die bedachte Wortwahl, der melancholische Ton, die auffallend langen Sätze, die mich zum langsamen Lesen zwangen. Es ist ein Buch, dass mich nachdenklich zurücklässt, was ich sehr mag. LESEEMPFEHLUNG! Und nicht zu vergessen: große Coverliebe.
Zitat:
„Kann sich ein Kreis schließen oder gibt es tatsächlich keinen Anfang und kein Ende, keine Kontinuität, nur lose Fäden, die sich nicht verbinden lassen, hast du dich das nicht auch bisweilen gefragt? Unsere Ambitionen ein Rätsel, all unser Streben, nach einer Symbiose, mit wem oder was auch immer, Erfüllung in den Dingen, den Menschen, einem Tun, das einem scheinbar innewohnenden Zweck dient, stattdessen nun der Versuch eines Mäanders, einer Ziellosigkeit hin an die Grenzen der Geschichte oder gar unserer eigenen, dort, wo sich alles auflöst, im Vergessen und ohne den Hauch eines Bedauerns; das Fragmentarische annehmen, als Erzählwirklichkeit, als innere Wirklichkeit. Ein bewegungsloser Tanz, den du einmal vor einem dir unbekannten Publikum aufführen wirst – ein Taumeln.“ S. 152
VALERIE BÄUERLEIN: DIE UNVOLLSTÄNDIGE, Kjona, Erscheinungstermin 21.8.2023, 160 Seiten
unbezahlte Werbung, Rezensionsexemplar