Alina Herbing: Tiere, vor denen man Angst haben muss

Lesehighlight!

Die Ich-Erzählerin Madeleine (16 J.) und ihre jüngere Schwester Ronja wohnen mit ihrer Mutter auf einem maroden Hof im Norden Mecklenburgs. Die Mutter erfüllte sich mit dem Umzug von Lübeck kurz nach der Wende einen Traum, doch für Madeleine und Ronja sind die Jahre auf dem Land alles andere als idyllisch. Wichtiger als ihre Kinder sind der Mutter nämlich die Tiere: Hunde dürfen auf den Tisch, urinieren auf dem Fußboden, Mäuse laufen durch das Haus, ein Zimmer dient als Brutplatz für Vögel, vor der Tür warten die Wildschweine Hänsel und Gretel, an denen die Geschwister vorbei müssen, um zum Plumpsklo zu gelangen.

Es ist Herbst und die Kinder frieren, Madeleine sitzt mit Wintermantel gekleidet in ihrem Zimmer, das nur 11 Grad hat, und versucht, sich auf ihre Hausaufgaben zu konzentrieren. Der Riss an der Wand über ihrem Bett scheint sich zu weiten und sie spürt die kalte Luft, die hindurchströmt. Doch die Mutter will von all dem nichts wissen, auch nicht vom Hunger der Kinder und ihren Ängsten vor den Tieren.

Ein sehr ergreifendes, berührendes, außergewöhnliches Buch, das nicht so schnell los lässt, mit einer Hauptfigur, die mir sehr ans Herz gewachsen ist. Ein Roman über Geschwister, die schon früh auf sich allein gestellt sind, die sich nicht sicher und geliebt fühlen, die unter der Lebensweise ihrer Mutter leiden und gesundheitlichen Schaden nehmen, deren Highlight die Lieferung des Quellekatalogs ist, den sie durchstöbern und von einem anderen Leben träumen und von einer neuen Toilettenbrille, damit sie nicht wieder einen Splitter in der Pobacke haben; über eine Hauptfigur, auf der Suche nach Geborgenheit und einen Platz für sich, die versucht, stark zu sein und ihrer jüngeren Schwester Mut zu machen. „Wenn dir deine kleine Schwester weinend in den Armen liegt, das wusste ich, darfst du selbst auf keinen Fall auch anfangen zu weinen. Darum musste ich die Tränen hinunterschlucken, was so wehtat, als würde ich versuchen, Nadeln zu essen.“ S. 152

Große Leseempfehlung!

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Zitate:

„In der Pfütze neben mir spiegelte sich der Himmel, und ich stellte mir vor, ich würde kopfüber hineinspringen und von dort in eine neue Welt gelangen, die unter unserem Hof, unter der gesamten Erde lag.“ S. 31

„Im Gras lagen kleine, rot leuchtende Äpfel zwischen schimmeligen Hundekackehaufen.“ S. 31

„„Die Tiere gehen immer vor“, sagte meine Mutter doch immer. Wir durften erst frühstücken, wenn alle Tiere gefüttert waren.“ S. 98

„Ich musste genau abschätzen, wann ich wieviel Wärme brauchte. Zum Schlafen nicht unbedingt, wenn ich mir die Wärmflasche machte und mir die Wolldecke über das Federbett warf. Zusätzlich konnte ich eine Strumpfhose unter meinen Pyjama ziehen und einen Pullover statt des dünnen Flanelloberteils tragen. (…) Die Zeit, in der ich es wirklich warm haben musste, war also eigentlich nur zwischen 16 und 21 Uhr. Ich musste es hinbekommen, meinen Ofen wenigstens einmal am Tag so zu heizen, dass ich mich auf die Hausaufgaben konzentrieren konnte.“ S. 149

„Die Kälte lähmte mich. Sie fror mich ein. Meine steifen Hände. Mein Körper, der sich nicht mehr bewegen, mein Gehirn, das vor Kälte nicht mehr denken konnte, wenn ich zitternd am Schreibtisch saß.“ 149 f.

„Ronja und ich saßen am Küchentisch, sahen den Ratten zu und trauten uns nicht aufs Plumpsklo. /Seitdem die Wildschweine bei uns waren, hatten sich die Ratten explosionsartig vermehrt.“ S. 158

„Anstatt Ratten zu zählen, könntet ihr lieber mal gucken, ob die Wäsche schon trocken ist:“ / „Aber wir müssen aufs Klo“, sagte Ronja./ „Dann pinkelt doch in den Garten“, sagte meine Mutter./ „Wir können doch nicht immer in den Garten pinkeln.“/ „Warum denn nicht? Seid doch nicht so verklemmt.“ S. 160

„Draußen lag Schnee, und als ich am Schreibtisch Atemwölkchen in die Luft hauchte, hielt ich es nicht länger aus.“ S. 176

„Bei jedem Auto, das ich hörte, sah ich zur Straße hinüber und glaubte, es müsste der Trabi meiner Mutter sein. Sie wusste, wo ich war. Sie wusste, wie kalt es war. Sie wusste, wie lange ich schon wartete.“ S. 191

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unbezahlte Werbung, Rezensionsexemplar

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