Valerie Fritsch: Zitronen

LESEHIGHLIGHT

Was für ein Roman! Inhaltlich schwere Kost, die mich hin und wieder kurz zum Innehalten zwang, ich dann aber doch schnell weiterlesen musste, da mich das Buch in seinen Bann zog. Es ist die Umsetzung des Themas, die tiefgründigen Schilderungen der Charaktere und vor allem sind es die vielen fantastischen Sätze und Bilder, die mich fassungslos begeistern, für deren Wiedergabe hier der Platz fehlt, von denen ihr aber einige auf meinem Blog lesen könnt.

„Alle Menschen hatten sein Leben lang über seinen Leib verfügt, auf diese oder auf jene Weise, und ihm mit falscher Liebe oder mit echtem Hass Intimitäten aufgedrängt, gegen die sich zu wehren ihm gar nicht in den Sinn gekommen war.“ S. 123

August Drach wächst in einem Haus am Dorfrand auf. Sein Vater schlägt ihn, macht ihn klein. Die Mutter Lilli sagt kein Wort gegen den Vater, überschüttet ihren Sohn nach den Schlägen mit Zärtlichkeiten. „Es war ein Ritual von Gewalt und Zärtlichkeit (…)“ S. 29. Als der Vater die Familie verlässt, „So leise, wie er sonst laut war, (…)“ S. 38, verwandelt sich die Zuwendung der Mutter. Sie gibt ihrem Sohn heimlich Medikamente, die ihn erkranken lassen, um ihn anschließend mit Zuwendung zu überhäufen. Die Bewunderung, die sie für ihre aufopferungsvolle Mütterlichkeit erlang, genießt sie und sieht sich selbst, als die Mutter, die sie sich immer für sich gewünscht hatte, als eine beschützende, rettende Mutter.

Im zweiten Teil des Romans ist August erwachsen. Er versucht seinen Weg zu gehen, „jemand zu werden, etwas zu haben, jemand zu sein“ S. 97. „Jahre hatte er verschlafen im Dämmerzustand seiner Krankheit und Jugend, immer geduckt, immer niedergedrückt, eingeschlossen in der hohlen Hand des Vaters, eingesperrt in eine Krankengeschichte, die niemand heilen konnte, und nun gab es keine Zeit zu verlieren.“ S. 92. Als er Ava begegnet, erfährt er das erste Mal wahre Liebe, doch Zärtlichkeiten anzunehmen, fällt ihm schwer, „die Kindheit sitzt ihm im Nacken, in den Knochen, im Hirn…“ S.120.

Die Gedanken an seine verschwommenen Jahre, in denen Gewalt und Zärtlichkeit zusammengehörten, lassen ihn nicht los und die Fragen seines Lebens begleiten ihn: Wer genau ist er überhaupt? Warum war er stets krank? Warum ist der Vater fortgegangen? Warum hat ihn niemand beschützt? „Verwirrt sah er auf seine Jungend wie auf ein flirrendes Fehlersuchbild, dessen Abweichungen er nicht auf die Spur kam, da er kein Original zum Vergleich besaß.“ S. 133 Wie durchbricht August den Kreislauf von Lügen und Betrügen? Und was passiert, als er sich Jahre später zurück ins Elternhaus begibt?

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Und der Titel? Es sind Zitronen, die sich durchs Buch ziehen, beginnend vom Sommer im Süden, als die Mutter keinen unbeobachteten Zugriff auf ihren Sohn hat, ihm keine Tabletten geben konnte, August gesund wird und staunt, wie schön die Welt sein kann.  Nach dem Sommer wird er immer wieder in Gedanken Zitronen vor sich sehen, Zitronen „die wie Planeten an den Bäumen hängen“ S. 84, „die am dunklen Himmel standen wie Sterne“ S. 109 , er wird sie fühlen, auch u.a. beim Liebesspiel, als Ava ihre Fingernägel in seine Haut schlägt, „wie er als Kind seine in die Zitronen geschlagen hatte“ S. 123

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„Zitronen“ von Valerie Fritsch wird wohl eins meiner Jahreshighlights werden. Der nächste Roman, den ich von ihr lesen werde, ist „Winters Garten“, der bereits in meinem Regal auf mich wartet.

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Zitate:

„Wenn der Schnee fiel, kochte Lilli Drach Apfelkompott so blass wie sie selbst, (…)“ S. 16

„Sie lebte ein anstrengendes Leben unter dem löchrigen Deckmantel eines unangestrengten Tagesablaufs.“ S. 16

„Später kamen die unvermeidlichen Enttäuschungen des Lebens, eine Liebe endete und eine andere begann nicht, Hoffnungen erfüllten sich und brachten doch nicht das Glück, auf das man dachte so gut vorbereitet zu sein, eine Idee war richtig, aber die Zeit war falsch.“ S. 19

„Sie besaß die Traurigkeit jener Menschen, die Großes vorhaben, aber kaum hoben sie die Hand, schrumpften ihnen die Dinge unter den Fingern, verzweigten sich, scheiterten an der Wirklichkeit.“ S. 20

„(…) das Schweigen wurde zum Faden, an dem hängend er sich in sich selbst verirrte und an dem er später zurückgehen musste, um aus dem Labyrinth seines Inneren herauszufinden.“ S. 26 f.

„Es war ein guter, großer Sommer, der Sommer des Verschwindens, in dem der Himmel blauen schien, als er es zuvor je gewesen war. Verlässlich schön jeder Tag, Morgen für Morgen wurde dieselbe Schablone von Sonne und Wolken aufgezogen, und auch die Temperaturen blieben ohne große Schwankungen.“ S. 42

„Der schlimmste Augenblick jedes Sommers ist sein Ende.“ S. 82

„Die Minuten blühten wie Millionen von Blumen auf dunklen Wiesen um ihn herum, und nicht eine ließ sich pflücken, keine verging.“ S. 108

„Er sah Zitronen, die am dunklen Himmel standen wie Sterne.“ S. 109

„In jedem Leben gehen Bestimmung und Selbstbestimmung, Glück, Unglück und Zufall mit stiller Wirkmächtigkeit gegeneinander an, zerren an der Linie, die zwischen Geburt und Tod gespannt ist, und wehen die auf ihr Balancierenden wieder und wieder vom Weg.“ S. 112

„Sie waren zwei Menschen im Fingerhut, zwei einander Schonende.“ S. 148

„(…) so kam der Schlaf über ihre Leiber wie eine gewölbte Hand um ein entzündetes Streichholz.“ S. 150

„Die Liebe wurde ihm ein Ort, eine Adresse auf der Welt, ein Zuhause, gebaut aus den kleinen Gedanken der Zusammengehörigkeit, in der er sich erstmals im Leben geborgen fühlte.“ S. 151

„Auf den Wiesen seiner Heimat blühten die Blumen wie die Minuten einer schlaflosen Nacht, klein, dunkel, unzählbar, endlos.“ S. 168

„Wie ein altes Klavier knarrte der Boden das Lied von Augusts Kindheit unter seinen Schritten.“ S. 169

„Ihr Gesicht wie ein Apfel im Winter, (…)“ S. 170

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Valerie Fritsch: Zitronen, Suhrkamp Verlag, Erscheinungstermin 12. Februar 2024, 186 Seiten

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unbezahlte Werbung, Rezensionsexemplar

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