Dirk Gieselmann: Der Inselmann

-melancholisch, berührend, poetisch-

Anfang der Sechziger in einem entlegenen Teil Deutschlands: Hans Roleder ist 10 Jahre, als seine schweigsamen und schwermütigen Eltern mit ihm auf eine einsame Insel, weit draußen im See, abgeschirrt von der äußeren Welt, ziehen.  Der sanfte, genügsame Hans, mit einem Blick für die Schönheiten der Natur, fühlt sich sofort wohl auf der Insel. „Er war jetzt da, wohin er gehörte: am anderen, richtigen Ende der Welt“. S. 42 „Er konnte die Insel in einer halben Stunde umrunden, und doch war sie für ihn von Beginn an die größte der Welt.(…) Die Bucht, die er entdeckte, benannte er nach seinem einzigen Freund: Karl-Georg-Bucht.“ S. 52 Hans fühlt sich auf der Insel wie ein König in seinem Reich. Doch eines Tages erhält sein Vater einen Brief: Hans muss wieder zur Schule. Eine Stunde rudert er bis zum Festland, bei Gegenwind fast anderthalb, um zur Schule zu gelangen, wo er gar nicht hin will, weil ihn dort Manne und seine Kumpels, die Wölfe des Schulhofs, verprügeln werden. Als er beschließt, nicht mehr zur Schule zu gehen, wird er für sieben Jahre in eine Besserungsanstalt geschickt. Da ist er gerade 11 Jahre alt. „Er sah Mauern, Stacheldraht und Dornenhecken, die Gitter vor den Fenstern, keinen Ausweg, nirgends.“ S. 110 Nur durch die Kraft seiner Gedanken, die Gedanken an seine Insel, abends im Bett vor dem Einschlafen, zerbricht er nicht an den Demütigungen und Grausamkeiten während dieser Jahre. Sein Wunsch, eines Tages wieder auf die Insel zurückzukehren, scheint ihn zu retten.

Erzählt wird Hans Leben bis ins hohe Alter, von Hans, dem Inselkönig, dem Lautlosen (S. 41), dem Verlorenen (S. 107), von “Hans, der nicht mehr Hans ist“ (S.112), von Hans, dem Gezeichneten (S. 126), dem Verbannten (S. 147), dem Verblassenden (S. 171).

Ein wunderbarer Debütroman über die Sehnsucht nach dem Verschwinden, nach dem Rückzug aus der Gesellschaft, über das Verbundenheitsgefühl mit der Natur, über den Wunsch von den Eltern geliebt zu werden, über die Kraft der Gedanken, über die Freundschaft zwischen zwei Jungen.

Ein Roman in wunderbarer bildhafter Sprache, mit viel Feingefühl erzählt; mit einer sanften Schwere und mit zartem Klang; Ein Roman der mich bedrückt und mir dennoch sehr gefallen hat, besonders der Schreibstil und die Naturbeobachtungen, die Insel, die als „die große Allwissende“ geschildert wird, „Sie kennt jede Geschichte und kennt sie doch nicht: die des Findlings am Ufer, des Treibguts am Strand, (…)“ S. 39 und die Gedanken zum Wal.  

„Und was ist mit Hans: Ist seine Geschichte traurig? Ist sie schön? Ist sie beides?“ S. 169

Für mich ist sie sehr traurig und berührend, aber wunderschön und poetisch geschrieben.

LESEEMPFEHLUNG

Zitate:

„An jenem Dezembertag also, da Hans einen Stein vom Ufer aus in den See warf, so weit er nur konnte, im Winter schlechthin, kälter als die meisten zuvor und alle anderen danach, beginnt diese Geschichte.(…) Wir sehen die konzentrischen Kreise, aber nicht mehr den Stein, der sie verursacht hat. Er ist sogleich in die Tiefe gesunken. Die Kreise dehnen sich aus, Träger simpler  Signale, lesbar für ein paar Augenblicke. Sie brechen lautlos am Ufer, dann verschwinden auch sie. Schade um sie, aber wer trauert um Wellen? Der See tut es nicht. Er beruhigt sich bald wieder, glatt liegt er da und scheint derselbe zu sein wie zuvor. Und doch ist er ein anderer: Ein Stein mehr liegt auf seinem Grund.

Auch diese Geschichte breitet sich aus in konzentrischen Kreisen, im Verschwinden begriffen, ist ihrer Mitte ein versunkener Stein. Ist sie traurig? Ist sie schön? Ist sie beides?“ S. 23

„Der Wal gehört zu keiner Art: Er ist der erste und der letzte seiner eigenen, die keinen Namen hat und haben wird. Er wandert zur gleichen Zeit wie Finnwale, aber auf der Route von Blauwalen, immer allein, und singt dabei sein zu hohes Lied, die Hymne seiner Einsamkeit. Hat er den Anschluss an die Blauwale verloren? Ist er zu spät dran für die Finnwale? Oder geht er beiden aus dem Weg? Niemand weiß es, am wenigsten er selbst. Seine Geschichte ist traurig oder schön. Vielleicht ist sie auch beides.“ S. 152

Dirk Gieselmann: Der Inselmann, Kiepenhauer&Witsch, 2023, 176 S.

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