Iris Wolff: Lichtungen

Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand.“ S. 76

Lev und Kato, zwei Menschen Mitte, Ende 30, die etwas miteinander verbindet. Ist es Freundschaft, ist es Liebe, es bleibt in der Schwebe. Doch auf jeden Fall sind sie Lebensmenschen für einander, jeder gibt dem anderen eine Zutat und sie kommen nicht voneinander los.

Vor 5 Jahren, Mitte der 90-iger war Kato aus Rumänien weggegangen. Der Aufbruch eine Befreiung für sie, wichtig, um zu sich selbst zu finden. Aus jedem Land, in das sie reiste, hatte sie Lev, dem in Rumänien Bleibenden, und dem ihr Fortgehen sehr nahe ging, Postkarten geschrieben. Vor vier Wochen dann die Karte mit dem Satz: „Wann kommst du?“ (S. 19) Ihr beider Leben hatte sich in gegensätzliche Richtungen bewegt, doch nun finden sie wieder zueinander und reisen gemeinsam sechs Wochen durch Europa.

Der Roman wird rückwärts erzählt, beginnend mit dem Wiedersehen nach 5 Jahren. So wie auch Erinnerungen nach und nach kommen, lernen wir die Hauptcharaktere und Nebenfiguren und ihre Vergangenheit allmählich kennen, was mir sehr gefallen hat. Das erste Kapitel ist auch nicht mit einer Eins nummeriert, sondern mit einer Neun. Jedem Kapitel vorangestellt, ein Zitat, als Guckloch für das kommende Kapitel.

Ich mochte sehr die Charaktere: Kato, die intelligente und talentierte Malerin, die sich ihr Geld mit Straßenkunst verdient, die Weltoffene, die Sehnsüchtige, die von ihrem Vater nicht gesehen wurde, jedoch von Lev. Kato, die eine besondere Beziehung zu Camil hat, Camil, der alles besorgen kann, der sie beim Malen unterstützt, der eine Liebe zu Amseln hat, Camil der im Land der Diktatur plötzlich spurlos verschwindet.

Lev, der Feinfühlige, der Zurückgebliebene, dem in dem Vielvölkerstaat die Zugehörigkeitsfrage beschäftigt, dem nicht gelungen ist, die frühen Verluste, seine bedrängenden Erinnerungen, u.a. die Zeit beim Militär, eine Zeit des Drills und seine Zeit im Wald, hinter sich zu lassen.

Ein Buch, in dem es um Zugehörigkeit und Fremdsein geht, um Erinnern und Vergessen, um Menschen, die uns nahe sind, um die Frage, was uns prägt uns und was wir loslassen sollten. Ein Buch mit politischen und kulturgeschichtlichen Anknüpfungspunkten, über ein Leben in der Diktatur, ein Land an der Schwelle, der Auswanderungswelle 1989; mit schönen Landschaftsbeschreibungen und für mich das Allerbeste: wunderbar zärtlich, sanft und poetisch geschrieben mit einer besonders schönen bildhaften Sprache und mit sehr vielen goldenen Sätzen.

Ich bin glücklich, dass ich bei der Buchpremiere am 10.1.2024 in Berlin dabei sein konnte. Es war ein wunderbares Erlebnis, die sehr sympathische und kluge Schriftstellerin zu erleben, ihren Worten und ihrer sanften Stimme zu lauschen. Einen kleinen Bericht zur Buchpremiere findet ihr hier auf dem Blog.

Ich werde noch eine Weile im neuen Roman von Iris Wolff übers Fortgehen und Bleiben verharren, ihm noch Zeit geben und noch nicht gleich zum nächsten Buch aufbrechen.

Zitate:

Das Abendlicht untersuchte sein Zimmer, gab den Möbeln einen Anstrich von Leichtigkeit.“ 55

Die Möbel schienen zu schlafen, Staubkörner fielen, der Überwurf des Sofas war glatt gestrichen, Kissen standen folgsam Spalier.“ S. 81

Ein Wohnzimmer war wie die Erweiterung eines Körpers – jemand erlaubte einem, in sein Innerstes einzutreten.“ S 95

Schuld, was sollte das sein?

Es gab keine Schuld, nur eine Abfolge von Entscheidungen.“ S. 115

Iris Wolff: Lichtungen, Klett-Cotta, Erscheinungstermin 13. Januar 2024, 256 Seiten

unbezahlte Werbung, Rezensionsexemplar

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