Olga, Hanna und Giorgio: drei Menschen, drei unterschiedliche Lebensgeschichten über das Suchen und Finden des eigenen, richtigen Weges, in sinnlicher, poetischer, gefühlvoller Sprache. Es ist ein Buch, das mich berührt, umarmt und weit ziehen lassen hat, das ich bewusst langsam gelesen habe, um den Lesegenuss, den mir diese Erzählungen boten, auszudehnen. Große Leseempfehlung für dieses fantastische Debüt mit dem leuchtend gelben Cover und den vielen funkelnden Sätzen.
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Die drei Protagonist:innen sind in unterschiedlichen Lebensphasen: Olga lernen wir bereits als Kind kennen, Hanna ist im Pflegeheim, Giorgio Mitte 40. Sie alle stellen sich den Hindernissen des Lebens und finden ihren Weg. Es geht um Wendungen im Leben, ums Verlassen und Ankommen, um eine unbestimmte Sehnsucht, Abenteuerlust, Liebe, den Wunsch nach Freiheit, ums Suchen und Finden.
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Giorgio, knapp über 40, Vater von Luisa, Ex-Mann von Angela, lernt Gilda kennen. Gemeinsam verlieren sie sich in eine andere Welt, ziehen zusammen, doch bald hat Giorgio das Gefühl, sein Leben geht in die falsche Richtung. Scheinbar grundlos befällt ihn eine Traurigkeit, Träume belasten ihn, eine Sehnsucht überwältigt ihn, ohne das er weiß, wonach er sich sehnt. Er hat das Gefühl, „als schlittere man am wirklichen Leben vorbei.“ S. 94 Eines Tages, als sich der Himmel verdunkelt, die Wolken in Lila und Rosa getaucht sind, es aussieht, als ob sich der Himmel mit Zuckerwatte überzogen hat, ist ihm, als ob er kurz davor wäre, etwas zu erkennen, etwas, das für ihn wichtig ist, obwohl er keine Ahnung hat, was das sein könnte. ( S. 111) Es ist eine Erzählung über die Sehnsucht nach dem passenden Leben, übers Erkennen, das die Dinge anders sind, als immer gedacht und darüber, dass es für das Glück nicht immer das braucht, was man sich sehnlichst wünscht. Auch Gildas Sicht fließt in diese Erzählung mit ein, was mir sehr gefallen hat.
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Für Hanna steht die Zeit still. Im Pflegeheim läuft jeder Tag gleich ab. Als sie in ihrem Koffer den vergilbten Zettel mit dem Wort „Özgürlük“(türkisch Freiheit), findet, packt sie erneut die Abenteuerlust. Dem Pfleger Kamin, der ihr sonst vorliest oder von Geschichten aus seinem Land berichtet, erzählt sie von Cemal. „Ich habe dir immer nur von Paul erzählt. Aber es gibt noch einen zweiten Mann in meinem Leben.“ S. 68 „… wenn ich ihm zusah, fühlte ich, wie Sehnsucht und Abenteuerlust in mir erwachten.“ S. 69 Hanna begibt sich mit ihren zwei Lieben auf eine Reise ins Unbekannte, eine Reise, die niemals enden soll. „Niemand wird sie daran hindern, diese Reise fortzusetzen. Nicht, nachdem sie, endlich, wie sie findet, in einen Zug Richtung Ferne gestiegen ist. Sie wird diesen letzten Tag wie einen Schatz hüten.“ S. 85 Dies ist meine Lieblingserzählung aus dem Buch.
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Olgas Leben ist geprägt von einer innigen Familiengemeinschaft und Unbeständigkeit. In jungen Jahren verliert sie ihren Vater, der Verlust prägt ihr Leben. „Sie und ihre Mutter lernen zu leben, ohne es zu wollen.“ S. 16 „Es sind karge, freudlose Jahre„, die folgen (S. 17) und der beginnende Zweite Weltkrieg stürzt die Familie in ein noch größeres Elend. Doch Olga geht ihren Weg, emigriert wegen der Arbeit in die Schweiz, wo sie Giacomo kennenlernt. Olga fragt sich, ob eine Ehe mit ihm das Richtige ist, denn eigentlich träumt sie davon, nach einer gewissen Zeit nach Italien zurückzukehren und dort eine Boutique zu eröffnen.
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„Drei Menschen, drei Geschichten. Alle drei brechen sie auf, begeben sich auf einen weiten Weg und kommen schliesslich an. Dort, wo sie vielleicht schon immer hinwollten.“ (Klappentext)
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„Segle
einem Schiff gleich
über Tiefen
einem Horizont entgegen.
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Schwebe
einem Vogel gleich
in unbekannter Luft
in ein fernes Tal.
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Dorthin
dem Wind ergeben
wo man sich niederlegt
in offener Hand.“ S. 5
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Tiziana Locati: Weit werd´ ich ziehn, Olga, Hanna, Giorgio, Literatur aus der edition 8, Erscheinungstermin 26. September 2022, 160 Seiten
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Zitate:
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„Es ist einer dieser ersten lauen Frühlingstage, in denen alle Welt plötzlich leicht überdreht nach draussen strömt.“ S. 21
„Sie hat bereits früh lernen müssen, dass Gott ihre Pläne nicht zu erfüllen gedenkt und es dennoch weitergeht.“ S. 24
„Wie anders sich die vorbeiziehende Landschaft auf der Rückreise präsentiert. Alles ist in ein mildes Licht getaucht.“ S. 25
„Alles um sie herum scheint ihr zauberhaft.“ S. 26
„Dann saß ich ein paar Augenblicke einfach da und stellte mir ein anderes Leben vor. Nicht dass ich es wirklich gewollt hätte, ich war ja zufrieden und liebte Paul innig, aber für einen kurzen Moment gab ich mich dem Gefühl hin, ich sei in einer bunten, schillernden Welt unterwegs, in der hinter jeder Biegung etwas Neues, Aufregendes auf mich wartete.“ S. 70f.
„Ich hatte das Gefühl, dass hinter unseren Worten andere steckten.“ S. 72
„Zum Abschied hob er sorgfältig meine Haare und küsste mich zärtlich im Nacken. Seine Lippen begleiteten mich durch den Tag.“ S. 73
„Ohne weiter zu zögern, schenkten wir uns ganz und ließen geschehen, was ich mir bereits tausend Mal ausgemalt hatte.“ S. 74
„Sie wollte keinen Mann mehr mitziehen. Sie wollte frei sein.“ S. 76
„Es fiel mir an einem Frühlingsmorgen das erste Mal auf. Das kennst du sicher. Du stehst auf und die ganze Strasse ist ein Meer von Rosa getaucht. Scheinbar über Nacht ist alles erblüht. So ein Morgen war das.“ S. 95
„Ihr Gesicht geküsst, das die festen Konturen des Tages noch nicht angenommen hatte. In ihre Augen geschaut, die die Weichheit der Nacht noch in sich bargen.“ S. 98
„Er kennt das Gefühl. Früher hat er es mit Leere und Ratlosigkeit verwechselt, bis er gemerkt hat, dass es eine Art von Stille war. Wie beim Meer, wenn es sich zurückzieht und für den Moment Ruhe einkehrt, bevor es mit voller Kraft wieder ans Ufer brandet, alles benetzt und den Untergrund in Bewegung versetzt.“ S. 111
„Es ist Giorgio, als ob sich dichter Nebel lichtet und er plötzlich sehen kann, was schon immer war.“ S.137
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