Sarah Knausenberger, Elke Ehninger, Die Wildmohnfrau

„Wenige Worte können ein ganzes Leben aus den Angeln heben. Wie meines wohl verlaufen wäre, wenn es diese kleine Anzeige nicht gegeben hätte?“ (S. 5)

Die Mutter der Ich-Erzählerin Mia trennt sich vom Vater ihrer Tochter (5 Jahre) und zieht mit ihr zur Wildmohnfrau, die sie über eine Annonce kennengelernt hat: „Wildmohnfrau mit Tochter sucht Schmetterling. Hast du es auch satt, für Männer auf dem Boden zu kriechen? Lass uns gemeinsam die Flügel ausbreiten und in die Freiheit fliegen.(…)“ (S. 8). Statt eines klassischen Elternhauses haben beide Töchter Mia und Toni nun zwei Mütter und leben so vier Jahre gemeinsam. Es ist eine Zeit mit Räucherstäbchenqual in der Luft, mit Hirsebrei am Morgen, eine Zeit, in der nur mit den drei Grundfarben gemalt werden darf, Fernsehen verpönt und alles Überflüssige in der Wohnung abgeschafft wird. Zwischen Toni und Mia entsteht währenddessen eine tiefe und langanhaltende Freundschaft. „Es war, als hätten wir an dem Morgen im Sandkasten verstanden, dass unsere Mütter die Loyalität zu ihren Töchtern gegen die Loyalität zueinander ausgetauscht hatten. Es war ein Schmerz, der uns zusammenschweißte und der auch verlangte, dass wir uns gegenseitig vor den eigenen Müttern schützten.“ (S.10 f.)

Als die Wildmohnfrau noch ein Baby bekommt und ein Sorgerechtsstreit mit Mias Vater beginnt, ziehen die beiden auch dort aus. Mia stehen nun mehrere Wohnortswechsel bevor. Dass ihre Mutter selbst auf der Suche ist und nicht richtig ankommt, ist für Mia schwer. Außerdem vermisst sie ihren Vater. Als der jedoch wieder eine Frau und mit ihr ein Baby hat, fühlt sie sich auch dort nicht zugehörig.

Wir erfahren von der Kindheit Mias, von ihrem Aufwachsen, dem Erwachsenwerden vor dem gesellschaftlichen Hintergrund der frühen 1980er und 1990er Jahre. Das Leben des Mädchens ist von Brüchen durchzogen. Doch sie widersetzt sich den Widerständen und findet ihren Weg und eine innere Heimat.

Es ist ein Buch über Einsamkeit und Freundschaft, über Freiheit und Verantwortung, über Hindernisse im Leben und über das Daranwachsen, über das Erwachsenwerden, über die Suche nach dem eigenen Weg im Leben und über die Kraft der Worte.

„Ich fuhr durch die Straßen und wusste plötzlich, dass ich jetzt für immer ein Zuhause hatte. Ich, die ich von keiner Stadt mehr als zwei Straßennamen kannte, weil ich nie lange genug blieb, ich, die ich nie ein eigenes Zimmer hatte und mit elf allein unterm Weihnachtsbaum saß, ich hatte meine Heimat gefunden. Sie war groß und grün, weitläufig und vertraut und konnte nie überschwemmt werden. Denn das Land der Worte steht über allem.“ (S. 155)

„Die Wildmohnfrau“ ist ein Buch, dass ich wunderschön finde. Format, Cover, Papier, die gesamte Buchgestaltung und die vielen enthaltenen Illustrationen finde ich sehr ästhetisch, wie auch schon viele andere Bücher des Verlages Kunstanstifter.

Doch das Buch ist nicht nur schön, es ist auch ganz bezaubernd geschrieben. Es ist poetisch und kraftvoll und es ist, wie ich finde, zu merken, dass das Herzstück der Autorin die Lyrik ist und sie einen ausgeprägten Sinn für die Schönheit der Sprache hat.  Neben den Illustrationen im Buch, gibt es vor jedem Kapitel einen kurzen pflanzenkundlichen Exkurs, mit dem die Autorin wissenschaftliche Erkenntnisse und Roman verwebt.

Ausgewählte Zitate:

Die Wildmohnfrau (…) „verlieh unserem Leben Farbe und rief Träume in uns wach, auf die wir nie allein gekommen wären. Aber ihre Labilität bestimmte uns. Alle wussten, wenn wir nicht tun, was sie sagt, knickt sie um.“ S.5

„„Jetzt sind wir endlich auf Reisen“ sagte ich. „Nur Toni fehlt.“ Mama seufzte. „Ach, ich habe das Gefühl, wir sind schon seit Jahren unterwegs. Es wird Zeit, dass wir mal irgendwo ankommen.““ S.52

Warum kann nicht alles wieder so sein wie früher?“ S. S52

„Ich versuchte, mir neue Träume zu zimmern, irgendetwas, das mir Halt geben würde, aber es gab nichts.“ S. 53

„Ich würde nie mehr zu Papa, seiner neuen Frau und ihrem neuen Kind zurückkehren. Nie. Wo Mama war, wusste ich nicht. Ich könnte ein Straßenleben anfangen wie Phil, allerdings war ich sicher zehn Jahre jünger als er und sicher würde die Polizei oder Papa mich finden. Auf einmal war mir klar: Ich musste zu Toni, und zwar sofort.“ S. 72

Sara zeigte mir ihre neuen Glitzer-Aufkleber. Ich aber war von einem Mann belästigt und meiner Mutter verlassen worden, war bei meinem Vater ausgezogen, hatte Phil kennengelernt und war alleine quer durch Deutschland gereist. Was sollte ich mit Aufklebern anfangen?“ S. 74

„Es war nicht nur Frau Ida, die beerdigt wurde. Es war die zauberhafte Stimmung ihres Gartens hinter unserer Hecke; waren die Besuche in ihrer kleinen Küche, die Gerüche von Marmelade und frischem Kuchen. Und das Gefühl: Du bist ein Kind. Du bist kräftig, deshalb kannst du einer alten Dame auch mal helfen. Aber dafür wirst du bekocht, verhätschelt und umsorgt. Niemand hatte mich bisher so umsorgt wie Frau Ida, und niemand würde es wieder tun.“ S. 80

„(…) Mama sollte nicht denken, sie könnte mich wie einen Hund irgendwo absetzen und dann wieder einsammeln und irgendwo anders mit hinnehmen.“ S. 81

Frau Idas Haus wurde mein eigenes kleines Zuhause.(…) „Ich bleib hier. Mach dir um mich keine Sorgen.“ Das war kurz vor meinem dreizehnten Geburtstag. S. 85

„(…) die Tatsache, dass dieser Mann seine Gedanken auf Papiere kritzelte und die Worte es auf geheimnisvolle Weise von den Papieren in das Buch hineingeschafft hatten, und dass ich, ein fremdes Mädchen, nun in diesem Buch die Gedanken lesen konnte, die in diesem Mardermannkopf herumschwirrten, das faszinierte mich. (…) Und irgendwie machte es mir Mut. Es ist seltsam, aber die Ungewissheit, in die ich hineinfuhr, und das Dunkle, das hinter mir lag, wurden plötzlich erträglicher. Man kann über diese Erlebnisse nachdenken, dachte ich. Und was man denkt, kann man auch aufschreiben. Und wenn man es aufschreibt, hat man es eingefangen, man kann es sogar auf dem Schoß halten. Dann kann es einem nichts mehr tun.

Mir fiel ein, dass ich in England Tagebuch geschrieben hatte und ich schwor mir, das nun jeden weiteren Tag meines Lebens zu tun, sollte ich diese seltsame Reise irgendwie überleben.“ S. 128

Natürlich wusste ich, dass ich immer bei der Wildmohnfrau unterschlüpfen konnte. Das wäre die einfachste Lösung gewesen. Aber es war zu nah dran. Zu nah an dem Schmerz, den ich nie wieder fühlen wollte.“ S. 135

„Obwohl Toni und ich in den letzten Monaten kaum Kontakt gehabt hatten, fühlte ich mich ihr in dieser Zeit näher als je zuvor. Ich wusste, sie wartete auf mich. Und ich wusste noch etwas – sie glaubte an mich.“ S. 136

Sarah Knausenberger, Elke Ehninger, Die Wildmohnfrau, Kunstanstifter, Erscheinungstermin 27. Januar 2023, 168 Seiten

unbezahlte Werbung, Rezensionsexemplar

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