„(…) wie sie zusammengehalten hätten, das sei wirklich selten, so selten wie Libellen im Winter (…)“ S. 289
Mali, Vera und Grete: drei Frauenschicksale in der Nachkriegszeit, in Wien 1945. Bereits nach wenigen Seiten war ich gefesselt von den unterschiedlichen und fantastisch geschilderten Charakteren, die jeweils ihre eigene Geschichte, ihr persönliches Schicksal haben. Die Freudinnen führen ein unkonventionelles Leben, beharren auf ihre weibliche Selbstbestimmung und versuchen sich in dieser schweren Zeit ein eigenes Leben aufzubauen. Sie geben sich gegenseitig Halt, sind für einander da, sind Familie. Wir erfahren von ihren Träumen, ihrem Leben und vom unterschiedlichen Umgang mit ihren Schicksalsschlägen.
„Träume halten über Wasser, wer welche hat, klammert sich mit aller Kraft daran.“ S. 47
Grete träumt von New York. Sie arbeitet „am Sitz des amerikanischen Hochkommissars.“ „Ein Job bei den Amerikanern, das war fast schon wie Amerika.“ S. 84 Um zu vergessen geht sie oft aus, tanzt und trinkt. Mit den Präsenten ihrer vielen Männerbekanntschaften versorgt ihre Freundinnen. Doch um nach New York zu gelangen, müsste sie einen Amerikaner heiraten, was sie nicht möchte, da sie keinen von ihnen liebt. Vielmehr stellt fest, dass sie Frauen liebt.
Vera, die seit ihrem traumatischen Erlebnis nur sehr wenig redet, ist in sich gekehrt und möchte so unsichtbar wie möglich sein. Sie lenkt sich durch ihre Arbeit in der Tischlerei ab. Dort fühlt sie sich in Sicherheit, dort hat alles seine Ordnung. „Das, was passiert ist, hat die Zusammensetzung ihres Körpers verändert(…)“ S. 51. „Sie hat einen Weg gefunden, darum herum zu leben, und das Schweigen war ein wichtiger Teil davon. Eines jedoch gilt für alle, denen so etwas geschehen ists: Sie leben wie auf Eis. Wo für andere fester Grund ist, müssen sie vorsichtig sein, da sich unversehens eine glatte Fläche auftun kann, durch die sie einbrechen könnten.“ S. 61 Vera würde gerne ans Meer.
Mali, die ihrem Sohn Robert verschweigt, dass sein Vater noch lebt, versinkt gern im Kinosessel, um sich vom wirklichen Leben wegzuträumen. „Mein Sohn hat auch meine Augen, schau.“ (…)Das hat es leichter gemacht, nicht an seinen Vater zu denken.“ S. 414 f
Überwiegend ist der Roman aus der Sicht der drei Frauen geschildert, doch es gibt auch Kapitel aus der Sicht von Robert, Mali´s Sohn. Der Blick des Kindes auf seine Mutter und ihre Freundinnen, die Schilderungen über das Erleben seiner Kindheit, sein Heranwachsen, haben mir ganz besonders gefallen. Robert treibt die Frage nach seinem Vater um. Viele seiner Freunde haben keinen Vater mehr, doch bei ihm zu Hause steht nicht einmal ein Foto von seinem Vater, und das, was seine Mutter ihm über seinen Vater erzählt, scheint nicht zu stimmen.
Im letzten Kapitel kommt ein viertes Frauenschicksal hinzu: Manal. Die Yezidin betreut die inzwischen 90-jährige Mali im Altenheim. Das dramatische Schicksal von Manal ist mir sehr nahe gegangen. „„Ich würde vor Freude tanzen, wenn ich wüsste, dass alle tot sind, die der Vater meiner Tochter sein könnten“, (…)“ S. 402
Das Hinzukommen des vierten Frauenschicksals, der Zeitsprung in dem Roman, hat das durchweg sehr gute Buch für mich zur Vollendung gebracht.
Gudrun Seidenauer kann wunderbar schreiben. Die 448 Seiten des Romans habe ich verschlungen. Für mich ein Highlight. Große Leseempfehlung!
„„Wir wollen doch alle einfach leben. Leben und atmen und ein bisschen Glück erwischen.““ S. 294
Gudrun Seidenauer, Libellen im Winter, Jung und Jung, ET 23.2.2023, 448 Seiten
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