Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt

Wer, wie ich, die Bücher von Judith Hermann mag, wird sich auch über dieses freuen. „Wir hätten uns alles gesagt“ ist ein sehr persönliches Werk, in schöne Sätzen verpackt. Ein poetisches Buch über die Gedanken einer Frau in der Lebensmitte.

Judith Hermann erzählt über ihr Schreiben und ihr Leben.  Die Leser erfahren u.a. in welchem persönlichen Kontext ihre Bücher geschrieben wurden (z.B. „Lettipark“ nach Beendigung ihrer 10 Jahre andauernden Psychoanalyse (Seite 14)) und wie der erste Satz in ihrem Kopf entsteht (Seite 37).  Es geht um den Schreibprozess, um das Verschweigen des Eigentlichen (Seite 99), um Fiktion und Realität, ums Verfremden, Entstellen  („das am Ende nichts mehr richtig ist, aber alles wahr“ (Seite 64)) und es geht darum, welche Menschen und Situationen ihr Schreiben beeinflusst haben.

Beeinflusst wurde sie u.a. durch ihre Eltern. Ihr Vater: depressiv und jähzornig , hat ihr gern Angst gemacht (Seite 84), kochte absichtlich, was sie nicht essen wollte (Seite 93). – Ihre Mutter: „Wenn ich am Morgen aufstand, war meine Mutter schon lange aus dem Haus, sie kam erst abends zurück…“ (Seite 90)

Insbesondere das Schildern der Vater-Tochter-Beziehung fand ich sehr ergreifend.

Worte ihrer Großmutter, mit der sie aufgewachsen ist:

Du bist in ein Trauerhaus hineingeboren worden(…)“ (Seite 81)/ „du bist das Licht in unserer Dunkelheit, was mich verwirrte, niemand verhielt sich so, als wäre ich ein Licht.“ (Seite 81)

„Mein Schreiben ist an diese frühen Jahre gebunden. Eindrücke, Empfindungen, Gedanken, Ahnungen aus einem Damals.“  (Seite 98)

Leseempfehlung!

„Geschichten schreiben heißt misstrauisch sein. Lesen heißt, sich darauf einzulassen. Jede Geschichte erzählt von einem Gespenst. Am Ende ist das Zentrum der Geschichte ein Schwarzes Loch, aber es ist nicht schwarz, und es ist nicht finster. Es kann im besten Falle glühen.“ (Seite 128)

Für mich ist dieses Buch eines meiner Jahreshighlights. Ich bin großer Judith Hermann-Fan. Seit ich sie bei einer Lesung live erlebt, noch um so mehr. Sie ist eine sehr sympathische und kluge Frau, die mich sehr beeindruckt. Auszüge aus ihrem Buch von ihr persönlich vorgelesen zu bekommen, mit ihrer sanften Stimme, ihre klugen Sätze während des Vorlesens, haben diese Lesung für mich zu einem ganz besonderen Erlebnis gemacht.

Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt, S. Fischer, Erscheinungstermin 15.3.2023, 192 Seiten

unbezahlte Werbung, Rezensionsexemplar

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