Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Lesehighlight!
„Mein erster norwegischer Herbst seit dreißig Jahren.“ (S. 10) Die fast 60-jährige Ich-Erzählerin Johanna kehrt in ihre Heimat zurück, lebt in einer einsamen Blockhütte am Fjord. Nur wenige Kilometer von ihr entfernt wohnt ihre Mutter, die sie seit 30 Jahren nicht mehr gesehen hat. Ihr Verhältnis ist zerrüttet. „Ich selbst hatte mich entschieden, Ehe, Familie, Land zu verlassen (…) Sie verstanden es nicht oder wollten es nicht verstehen (…)“ (S. 8) „(…) alle erwarteten, dass ich meine Rolle spielte, die brave Anwaltstochter, die Anwaltsgattin, die Jurastudentin (…)“ (S. 27)
Nun sucht Johanna Kontakt zu ihrer Mutter. Sie wünscht sich Annäherung, Frieden, Erkenntnis und möchte Mutters Version der Geschichte erfahren. Viele Fragen treiben sie um, viele Erinnerungen kommen hoch. Doch ihre Mutter verweigert den Kontakt. Anrufe werden nicht entgegengenommen, Briefe nicht beantwortet. Da sie keinen Kontakt zu ihrer Mutter hat, stellt sie sich deren Leben vor „Mutter, ich erdichte dich mit Worten, um ein Bild von dir zu haben.“ (S. 99) . Doch das reicht ihr nicht…
Ein Buch, das mich gefesselt hat. Ich habe es an einem Wochenende gelesen, es hatte mich in seinen Bann gezogen. Der Schreibstil der Autorin, ihre Sprache, ihr Ton hatten es mir angetan. Sehr gefallen haben mir auch die Naturbeschreibungen, wie Johanna im Schweigen des Waldes den Elch beobachtet, der regelmäßig an ihrer Hütte vorbei kommt, den intensiven physischen Kontakt, den sie zur Natur und ihrem Freund, dem Stein, spürt. Die Naturbeschreibungen bilden einen guten Kontrast zur inneren Unruhe von Johanna; Gefallen haben mir auch die Gedanken über ihr eigenes Muttersein (sie hat einen Sohn John) „(…) war ich deshalb als Mutter genauso unbrauchbar wie meine Mutter (…)“ (S. 101) und Johannes Erkenntnis zum Leben ihrer Mutter, ihrer unglücklichen Kindheit und Ehe, ihr Revidieren des Kindheitsbildes.
Ein großartiges Buch über eine zerrüttete Mutter-Tochter-Beziehung, die nachwirkt, über Sehnsucht, Enttäuschung und davon, wie man der Vergangenheit begegnet, ohne sich selbst aufzugeben, über den Versuch sich zu ordnen und sich aus den familiären Zwängen zu befreien, von ihnen Abschied zu nehmen, sie hinter sich zu lassen, tiefgründig, packend, melancholisch, traurig, aber auch zum Teil witzig.
Ich werde das Buch ein weiteres Mal lesen.
„(…) ich bin die verlorene Tochter, die heimgekehrt ist, aber niemand nimmt sie in Empfang, das ist meine Schuld. Ich bin heimgekehrt, um zu suchen, und die, die suchet, findet, aber nicht das, wonach sie sucht.“ S. 177
Große Leseempfehlung!
Vigdis Hjorth ist eine der wichtigsten und meistrezipierten Gegenwartsautorinnen Norwegens. Sie ist vielfache Bestsellerautorin, wurde für ihr Werk unter anderem mit dem norwegischen Kritikerprisen und dem Bokhandlerprisen ausgezeichnet und war außerdem für den National Book Award 2023 sowie den Literaturpreis des Norwegischen Rates nominiert.
Umschlagabbildung: Leif Nyland
Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter, S. FISCHER, Erscheinungstermin 27. September 2023, 400 Seiten
unbezahlte Werbung, Rezensionsexemplar